– nicht nur eine Erinnerung –
In meiner Geburtsstadt Ansbach führt den Spaziergänger immer einmal auch der Weg durch den Hofgarten. Und man kommt dann zwangsläufig an einem merkwürdigen Gedenkstein vorbei, der einem unbedarften Betrachter Rätsel aufgeben kann. An dieser Stelle soll am 14. Dezember 1832 Kaspar Hauser durch einen Attentäter (?) schwere Stichverletzungen erhalten haben, an denen er dann am 17. Dezember verstarb.
„Hic occultus occulto occisus est – XIV Dec. MDCCXXXII“.
„Kaspar Hauser“ ist eines meiner ältesten Namens-„Engramme“. Schon dem Vierjährigen hat die Mutter bei einem Sonntagsspaziergang den Namen erklärt und ihre Art der Ansprache ließ das Dunkle der Geschichte schon damals vermuten.
Meine Mutter kannte kein Latein und die Inschrift dieses Gedenksteins hat sicher das Geheimnisvolle in ihrer Anmutung gesteigert. Auch später, wenn es abends oder am Sonntagnachmittag ans Geschichtenerzählen ging oder Ansbach ins Gespräch kam, fehlte die rätselhafte Geschichte des „Findlings“ Kaspar Hauser nicht.
Kurz zusammengefasst: Kaspar Hauser, ein Findling, um den sich lange Zeit das Gerücht rankte, er sei Abkömmling einer badischen Fürstenfamilie, der als Kind über Jahre bei Wasser und Brot in Einzelhaft gehalten wurde, bis im seine Flucht gelang und er am 26. Mai 1828 plötzlich in Nürnberg auftauchte. Ein „Wolfskind“…
Was konnte man da sich als Kind selbst zusammenphantasieren: Wie wäre es, man wäre selbst so eingesperrt (gewesen) in ein finsteres Loch, ohne Kontakt zur Außenwelt oder nahestehenden Menschen? Wie wäre es, dann als 16-Jähriger hinausgeworfen in eine fremde und feindliche Welt? Nicht wissend, von wem man abstammt, von wo man herkommt. Und dann gibt es auf einmal Menschen, die merkwürdiges Interesse an einem haben, sich intensiv um einen kümmern. Man wird zum bestaunten Wundertier, das jetzt Sprechen, Schreiben, ja gar „höhere Konversation“ erlernte.
Damals gab es noch kein Internet mit Wikipedia, wo man hätte intensiv nachforschen können, was es mit Kaspar Hauser auf sich hat – und was nicht.Im Gymnasium später wurde uns Jakob Wassermanns Roman „Caspar Hauser oder die Trägheit des Herzens“ als Lektüre anempfohlen.
1973 mein medizinisches Staatsexamen, Würzburg, Fach Kinderheilkunde: da machte sich der „berühmte“ und „berüchtigte“ Ordinarius und Professor der Pädiatrie „Jupp“ Ströder den Spaß, mich nach berühmten Persönlichkeiten meines Geburtsortes mit Bedeutung für die Kinderheilkunde zu fragen. Die Namen solcher Persönlichkeit werden einem ja nicht qua Geburt am Ort, den man vor 20 Jahren verlassen hatte, ins Gehirn gebrannt und da tat ich mir schwer. Da kam nichts von mir und so fragte er mich nahezu höhnisch, ob mir denn wenigstens der Kaspar Hauser bekannt sei. Heute würde man „Bingo“ sagen, Treffer! Wir waren in der „Kinderpsychiatrie“ gelandet und das „Kaspar-Hauser-Syndrom“ musste man kennen. Als von mir das Stichwort „Deprivation“ kam, war dieser Teil der Prüfung dann doch irgendwie gerettet. Mich wunderten nur die Pupillenreaktionen meiner drei Mit-Kandidaten in der Prüfung bei dieser Frage.
Seither hat mich Kaspar Hauser kaum mehr richtig beschäftigt.
Es gab aber mehrere gut gemachte Fernsehfilme über K.H., auch der Spiegel griff das Thema auf.
Und Reinhard Mey schrieb ein anrührendes Lied über „Kaspar“:
Deprivationssyndrom und Linne´s „homo ferus„
Eines der ersten Dokumente über die Folgen psychischer Entbehrung bei Kindern stammt aus dem 13. Jahrhundert von Salimbene von Parma. Er berichtet: Kaiser Friedrich II. wollte aus wissenschaftlicher Neugier, die Ursprache des Menschen herausfinden. Zu diesem Zweck befahl er Pflegerinnen Säuglinge zu stillen und zu pflegen, aber Reden, Zärtlichkeiten und Liebkosungen zu unterlassen. In der Folge sollen alle Kinder an diesem Mangel gestorben sein.
Victor von Aveyron, das berühmte französische „Wolfskind“ kam da den Aufklärern wie gerufen, um die Thesen Rousseaus in der Praxis zu testen.
Schlimm, sehr, sehr schlimm. Die armen Kinder. Ich kann das alles gar nicht lesen ohne dass mich ein schmerzendes Mitleid überfällt.
Heute wieder zig Kinderwagenschiebende Mütter mit Smartphone-Sucht gesehen. Was sich daraus wohl entwickelt, wenn die Kleinen ihre Mütter unentwegt auf diese flache Scheibe starrend erleben ?
„Mama, ich brauche Augenkontakt !“
„Jetzt nicht, nachher nicht und später auch nicht. Mein liebstes Kind ist flach wie eine Flunder, schön bunt und spricht mit mir. Das ist für mich viel interessanter als Du !“
Warum fällt das nicht unter strafbewährte seelische Grausamkeit ?